"DER STANDARD"-Kommentar: "Islamismus als Symptom" von Christoph Prantner

Eine Erklärung für das Blutbad von Toulouse ist gesellschaftliche Marginalisierung. (Ausgabe vom 23.3.2012)

Wien (ots) – Mohammed M. ist tot. Sein Name aber wird weiterleben, als ein Kennwort für einen unfassbaren Exzess an Gewalt, der nach Frankreich auch andere Länder treffen kann – jederzeit, und scheinbar aus dem Nichts. Denn der gesellschaftliche Nährboden für Taten wie diese, der ist in ganz Europa fruchtbar. Die Frage nach dem “Warum”, nach M.s Motiv, ist nicht mehr hinreichend zu beantworten. Viele der Hintergründe, die zu den Morden von Toulouse führten, werden durch den Tod des 23-Jährigen für immer im Dunklen bleiben. Es lässt sich nur spekulieren, ob er in französischer Strafhaft oder in Terrorcamps am Hindukusch radikalisiert wurde und ab wann seine Weltanschauung in blanken Extremismus umschlug. Auch was ihn schließlich dazu veranlasste, die Schwelle vom Kleinkriminellen zum Killer zu überschreiten, wird niemand mehr mit absoluter Sicherheit klären können. Beleuchten allerdings lässt sich sein Umfeld, das dem so vieler zorniger junger Männer gleicht, die ohne Perspektive durch ihr Leben schlittern. Angesiedelt zwischen verschiedenen Ethnien, verschiedenen Identitäten und, wie einige nun sagen, zwischen “Irrsinn und Al-Kaida” hat M. irgendwann die falsche Abzweigung auf seinem Weg genommen. Frustriert von der Ausweglosigkeit der französischen Vorstädte, angetrieben vom Hass des Zurückgesetzten, betrat er den Pfad des Fundamentalismus. Dieser versprach, seine Welt zu ordnen, so wie er etwa in jener von Anders Behring Breivik – eines anderen mörderischen “einsamen Wolfes” – zu einem Handlauf geworden war, der durch eine komplizierte Welt führen konnte. In dieser Lesart sind Islamismus wie christlicher Fundamentalismus nicht mehr als Symptome oder mörderische Ausdrucksweisen viel tiefer liegender sozialer Probleme. Genau diese wollte der französische Staatspräsident einst in der Banlieue mit einem Hochdruckreiniger, dem Kärcher, beseitigen. In Wirklichkeit hat sich nach dem populistischen Ausbruch Nicolas Sarkozys nichts geändert. In den Vorstädten leben noch immer die Ausgeschlossenen der inzwischen dritten Zuwanderergeneration, um ihre Eingemeindung in die Gesellschaft kümmert sich niemand. Dass das auch weiterhin so bleiben wird, steht nach den Reaktionen auf den Serienmord in Toulouse zu befürchten. Sarkozys Ankündigungen, seine Selbstinszenierung als Krisenmanager sind Wahlkampfgetöse, das auf leergedroschene Phrasen setzt. Ob ihm das für die Wahlen nützt, muss man erst sehen. Viele Beobachter sagen, mit einem Anti-Immigrations- und strikten Law-and-Order-Kurs könnte er vor allem in der Stichwahl für die französische Präsidentschaft Anhänger des Front National für sich gewinnen. Das sei seine wahrscheinlich einzige realistische Chance, gegen den in Umfragen führenden Sozialisten Franx{2588}ois Hollande zu bestehen. Ist das tatsächlich so, mag das gut für Nicolas Sarkozy sein. Ob es gut für ganz Frankreich ist, ist eine andere Frage. Denn bleiben die sozialen Probleme unbearbeitet, wird es auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sich ein Verblendeter zum Herren über Leben und Tod aufschwingt, dass eine Nation über ein unvorstellbares Blutbad trauern muss und dass es keine nachvollziehbare Erklärung dafür gibt. Das gilt für Frankreich, das gilt auch für andere sozialen Brennpunkte in Europa, in denen Menschen marginalisiert und mehr oder weniger sich selbst überlassen bleiben.

Rückfragehinweis: Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: https://www.ots.at/pressemappe/449/aom

 

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